
Es ist ja an sich schon erwähnenswert, wenn die Band, die heisst wie ein Berg, auf einem solchen spielt. Nicht auf irgendeinem, sondern auf dem Pilatus, 2106 Meter über dem Meeresspiegel. Auf den Pilatus pilgern täglich bis zu dreitausend Touristen. Von oben sieht man die halbe Schweiz, ausgebreitet wie ein Teppich aus blauen Seen, grünen Feldern und glitzernden Städten.
Seit 1898 muss niemand mehr zu Pferd oder zu Fuss da rauf, eine Zahnradbahn führt über extrem steile Anstiege – bis zu 48 % Steigung – und durch in den Fels geschlagene Tunnel bis fast auf den Gipfel. Dort oben machten Queen Victoria und Richard Wagner Urlaub. Wagner, jener Komponist, von dem der Musikwissenschaftler am Bass von Manowar gerne sagt, er sei der erste Heavy Metal Komponist gewesen. Apropos schwer und Metall – irgendwie muss ja das ganze Konzert-Equipment auf den Gipfel, und das geht nicht wie sonst bei Konzerten üblich: Mit dem LKW rückwärts an den Bühneneingang und rein damit. Nein, Gotthard am Pilatus, das war eine logistische Meisterleistung derer, die sonst eher im Hintergrund stehen: Der Veranstalter, Techniker, Planer und Bühnenarbeiter.
Es ist Samstag, der 5. Juli 2008, Tag des Konzerts und noch früh am Morgen. Jungs in Schwarz holen die Gotthard-Transportkisten mit der sogenannten Backline, also Gitarren, Schlagzeug, Mikrophonen, Licht und Monitor-Boxen, aus dem LKW. Die Bahn kann nur jeweils zwei bis drei Tonnen transportieren, je nach Typ. Eine Tonne wiegt die Backline, da reicht also eine Fahrt. Dreissig Minuten braucht die Zahnradbahn bis zum Gipfel, vierzig Minuten dauert die Fahrt hinunter. Martin Lüthy von Taifun Music, der Booking- und Produktionsmanagement-Agentur, hat den Zeitplan genau ausgerechnet. Um 9:00 fährt die erste Zahnradbahn mit der Gotthard-Backline und ein paar Begleitpersonen hoch. Um 10:10 reisen die Techniker hinterher. Um 12:00 wird die Backline der Vorgruppe Pegasus verladen und so weiter. Jede Phase ist durchgeplant.
Wir haben Glück und dürfen bereits in der ersten Bahn mitfahren. Der Typ neben mir sieht aus wie ein Rockstar – lange Haare, Sonnenbrille und Cowboyhut. Er ist Gitarrist, sagt er, und er kümmert sich darum, dass die Gitarren perfekt gestimmt und spielbereit für die Gitarristen auf der Bühne stehen. Er arbeitet nicht nur für Gotthard, sondern ist freiberuflich immer wieder bei anderen Veranstaltungen im Einsatz. Der Frontmann fährt auch mit – so heisst derjenige, der am Mischpult gegenüber der Bühne für den perfekten Sound sorgt. Mit in der Bahn sitzt auch einer, der sich als Andy vorstellt. Er ist Schweizer und ganz begeistert vom Pilatus. Seine Frau sei Spanierin, sie fühle sich auf einem so hohen Berg eher nicht wohl, erzählt er, dafür liebe sie das Meer. Neben der Bahn steht ein Reh und äugt neugierig in unsere Kabine. Ein paar Tunnel weiter starren wir in dunkelbraune Kuh-Augen. Die Wanderwege sind schon gut besucht. Dass der Fussweg eine nette Alternative gewesen wäre, scherzt Mark Nowak vom sicheren Sitzplatz aus.
Endlich oben am Berg fällt mir gleich neben der fantastischen Aussicht der doch recht heftige Wind auf. Die Bühne steht schon oben, die wurde am Donnerstag und Freitag Stück für Stück mit der Zahnradbahn hinaufgefahren, neben dem normalen Tourismusverkehr, wie mir Corinne Häggi, Marketing-Leiterin von den Pilatus-Bahnen erzählt. Bereits zum sechsten Mal veranstalten die Pilatus-Bahnen ein Open-Air, sagt sie „Man gewöhnt sich aber nie daran, es ist immer wieder eine Herausforderung.“ Gotthard zu Gast zu haben freut sie ungemein: „Es ist ja die wohl weltweit erfolgreichste und bekannteste Schweizer Band, die sonst auf 24 Meter breiten Bühnen oder in Sport-Stadien Riesen-Konzerte gibt. Wir haben hier oben das Glück, diese Band einem vergleichsweise handverlesenen Publikum von nur gerade 1600 Menschen zu präsentieren. Das wird sicher perfekt – hoffen wir, dass das Wetter mitspielt.“
Das Wetter ist auch die Hauptsorge für Christian Gosteli von der Stagelight AG. Die 17 Tonnen Bühne und Licht sind in Gefahr, wenn ein echter Gebirgssturm kommt. „Wegen des normalen Windes haben wir uns schon etwas überlegt“, sagt er. Die hohen Seitenstreben sind gegen wassergefüllte Behälter an jeder Ecke abgespannt. „Wenn’s ganz stürmisch wird, können wir das Bühnendach an den Streben nach unten fahren, alles damit zudecken und gleichzeitig dem Wind weniger Angriffsfläche bieten“, sagt Christian. Ich stelle mir schaudernd vor, wie das Bühnendach Gotthard unter sich bedeckt und 1600 Zuschauer ins Trockene flüchten wollen. „Aber das Wetter sieht heute super aus“, sagt Christan gerade, „Gestern beim Aufbauen hatten wir den ganzen Tag Nebel und nur etwa fünf Grad.“ Dass er jetzt trotzdem das Dach nach unten fährt, hat also eher damit zu tun, dass man dann die Scheinwerfer leichter erreicht als mit einem Testlauf für den Ernstfall.
In der Zwischenzeit zeigt uns Mark die Zimmer, die im Hotel für Crew und Band bereitstehen. Während wir einen Kaffee trinken und eine Kleinigkeit essen, kommt Lothar Strunk, der Produktionsleiter ins Zimmer. Er kennt Mark und den Gitarristen mit Cowboyhut. Wir anderen müssen uns vorstellen. Ich, mein Mann, der zum Fotografieren mitgekommen ist, und Andy nennen artig unsere Namen. Etwa 10 Personen kümmern sich laut Lothar um die direkten Belange von Technik und Organisation, alles Freelancer. Fix angestellt ist keiner, obwohl die Truppe oft wieder aus denselben Leuten zusammengestellt wird. Er selbst, Lothar, sei schon über drei Jahre dabei. Irgendwann scheucht er uns aus den Zimmern, er wolle jetzt alles für die Band bereit machen.
Draussen wird der Bereich vor der Bühne abgesperrt. Eine Wolke parkt am Berg und verdeckt den wunderbaren Blick hinunter auf die Schweizer Stadt Luzern. Dort unten haben Gotthard schon längst ihr Hotel verlassen – sie sind um 13:30 zum Soundcheck dran. Was die echte Wolke locker schafft, will mit der Nebelmaschine auf der Bühne einfach nicht gelingen. Der Wind, der die schwarzen Berg-Dohlen zu geniesserischen Kunstflügen verführt, weht sofort alles weg, was später das Licht streuen und für schöne Strahl-Effekte sorgen soll. Man arbeitet an der Einstellung. In all dem Treiben sind Steve Lee, Leo Leoni, Marc Lynn, Nicolo Fragile, Freddy Scherrer und Hena Habegger fast unbemerkt auf die Bühne gelangt. Die Touristen bleiben stehen, als Gotthard für den Soundcheck ein paar Lieder anspielen. Steve Lee gibt seine Anweisungen auf deutsch, englisch und italienisch.
Später nimmt er sich beim Pressetermin auch Zeit für unser Fanclub-Interview. Um seine Stimme mache er sich keine Sorgen, beantwortet Steve meine Frage: „Ich habe schon mit viele meiner Idole gefragt – alle haben ihre Geheimtipps wie Tee trinken oder Rotwein, rohe Eier essen oder was immer. Ich weiss für mich aus Erfahrung, dass man mit der Stimme auch auf dieser Höhe und bei eventuell kaltem Wetter fast alles machen kann. Man muss sich nur gut aufwärmen, sich gut einsingen und auch wieder Zeit nehmen für das cool down nach dem Konzert. Nie von null auf hundert einfach lossingen, nicht rauchen, nicht zuviel feiern und einfach auf den Körper hören. Der sagt uns schon, was ihm gut tut und was nicht.“ Dass die Luft hier oben reiner sei als in einer Halle, sei angenehm, sagt Steve und auch, dass er näher beim Publikum sein könne. „So ein akustisches Konzert ist eine sehr emotionale Sache – man kann direkter mit dem Publikum reden, auch mal einen Scherz machen.“
Auch Marc Lynn ist schon wieder zu Scherzen aufgelegt. Ich frage ihn, wie es ihm seit dem Motorrad-Unfall geht: „Ich bin noch nicht 100 % fit, aber meine Hand ist verheilt“, sagt er und zeigt mir die frische Narbe über dem Daumen. „Und heute werde ich mitspielen, weil ich sitzen kann. Ein normales Konzert würde noch nicht gehen, ich kann noch nicht ohne Krücken stehen.“ Da erblicke ich auch Hena und neben ihm steht Andy aus der Bahn von heute früh. An sein nettes Gesicht und seine echte Freude, hier am Berg zu sein, kann ich mich sehr gut erinnern. Ich frage Andy, wie denn die ganze Technik nach dem Konzert wieder ins Tal kommt. Bevor er antworten kann, sieht mich Hena irritiert an und bittet einen der vorbeieilenden Bühnenarbeiter, mir weiter zu helfen. Die Sache ist schnell geklärt. Direkt nach dem Konzert wird die Backline zusammengepackt und noch in der Nacht nach unten transportiert. Die Bühne folgt am Tag darauf.
Während die Künstler von Gotthard in die Hotelzimmer verschwinden und die VIP-Gäste noch plaudern, spielen Pegasus als Vorgruppe bereits ihren eingängigen Beat. Das Wetter ist ausgezeichnet und die Stimmung ausgelassen. Steve Lee singt sich wohl gerade ein. Es ist Sommer und hier am Berg auch um 20:30 noch hell, als Gotthard unter donnerndem Jubel der Fans die Bühne betreten. Man legt gleich los mit Songs aus dem Unplugged-Album „Defrosted“ – beim „Sweet Little Rock’n’Roller“ singt schon alles mit. Ein ganz anderer Sound, mehr Perkussion, Bongos – ich glaube mich trifft der Schlag. Da steht ja Andy auf der Bühne! Der aus der Bahn. Direkt neben Hena. Und schlägt die Bongos. Und schon stellt ihn Steve vor: „Seit 12 Jahren erstmals wieder bei uns dabei – on percussion: Andy Pupato.“ Jetzt weiss ich, warum Hena so reagiert hatte. Dieser Andy: Mit keinem Wort hat er erwähnt, dass er Musiker ist und kein Backliner – wahrscheinlich, weil echte Könner selbstsicher genug sind, um schon wieder bescheiden zu sein. Und es ist fantastisch, was er und die Gotthard Stammbesetzung hier am Pilatus abliefern. Satt instrumentierte, raffiniert umarrangierte Songs mit völlig entspannten Klangbildern. Selbst Hits wie „Mountain Mama“ klingen frisch und unverbraucht. Dafür fetzt „Lift U Up“ besonders rockig, „In the Name“ rührt fast zu Tränen, Es ist das passiert, was Steve sich im Interview gewünscht hat: Die Band und das Publikum sind zu einer Einheit verschmolzen. Ein fantastischer Abend, der eigentlich nie zu Ende gehen dürfte. Aber morgen werden ja wieder bis zu 3000 Touristen die Aussicht geniessen wollen. Und vielleicht werden sie den mystischen Drachen, der am Pilatus wohnen soll, in seiner Höhle summen hören: „Top of the World….of the World … of the World ….“
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